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Der Postbote pfeift Für Alina

Arvo Pärt
03.09.2025

Arvo Pärt gilt als rätselhafte, mönchsgleiche Persönlichkeit. Er ist außerdem wahrscheinlich der populärste klassische Komponist unserer Zeit. In den letzten 30 Jahren hat er eng mit ECM-Produzent Manfred Eicher und dem Chor-Ensemble Vox Clamantis zusammengearbeitet. Dessen neues Album And I heard a voice ist ein atemberaubendes Zeugnis dieser fruchtbaren Beziehungen, veröffentlicht zum Anlass von Pärts 90. Geburtstag am 11. September.

Die genauen Gründe für Arvo Pärts immense Popularität beim Publikum bleiben unklar. Nicht ganz so schwer zu erklären ist, warum sich das klassische Musik-Establishment zu seinen zurückhaltenden Kompositionen hingezogen fühlt: Sie ziehen einfach mehr und auch andere Menschen in die Konzerthallen als die meisten seiner Zeitgenoss:innen.

Laut Steve Reich liegt die Anziehungskraft des musikalischen Minimalismus darin, dass er Konventionen von Harmonie und Rhythmus wiederherstellt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgegeben wurden. In Alvier Luciers “Eight Lectures on Experimental Music” argumentiert Reich, dies sei der Hauptgrund gewesen, warum die zeitgenössische klassische Musik den Anschluss zum breiten Publikum verloren habe – eine Entwicklung, die er mit dem humorvollen Bonmot adressierte, es gebe “keinen Postboten auf Erden, der Arnold Schoenbergs Lieder pfeift.”

Ähnlich wie die amerikanischen Minimalist:innen (wie Reich) in den 1960er Jahren, haben es Arvo Pärts Arbeiten geschafft, ein breiteres Publikum zu erreichen, ohne je trivial zu sein. Die Ähnlichkeiten hören jedoch genau dort auf – Pärt ist eindeutig kein Minimalist im Reich’schen Sinne, aber er hat sich einen eigenen Platz geschaffen mit seinem Tintinnabuli genannten Kompositionsstil, der sich auf frühe Polyphonie, gregorianische Gesänge und andere heilige Formen von Musik bezieht.

Der begnadete Komponist studierte bei Meistern in Tallinn und Moskau hat und begann in den mittleren 1950er Jahren damit, Musik in einem relativ traditionellen “neo-klassischen” Stil zu schreiben (der übrigens nichts damit zu tun hat, was heute manchmal als ‘Neoklassik’ bezeichnet wird). Noch an der Universität begann er damit, Schönbergs 12-Ton-Technik und die daraus resultierenden serialistischen Innovationen der Neuen Musik der Nachkriegszeit zu studieren und diese komplexen Methoden mit seinem Interesse an heiligen Schriften zu verbinden.

1968 hörte Pärt zeitweilig auf zu komponieren; er steckte in einer kreativen Sackgasse. Das Sowjetregime hatte offen die religiösen Untertöne wie auch die westlichen Einflüsse in seinem Oeuvre missbilligt. Kurzzeitig schwenkte er auf einen Stil um, der von Collage-Techniken inspiriert war, doch Pärt erkannte bald die natürlichen Grenzen dieses Ansatzes. Als er sich vom aktiven Komponieren zurückzog, wandte er sich der christlich-orthodoxen Theologie und der Frühen Musik zu und begann in seinen mittleren Dreißigern eine intensive Zeit des Studiums und der Einkehr.

Nach einer langen Pause kehrte Pärt 1976 mit dem asketischen Klavierstück Für Alina zurück. Während seines Rückzugs aus der Öffentlichkeit hatte er eine neue Musiksprache entwickelt, die er Tintinnabuli nannte und die sein melodisches und harmonisches Material auf den essentiellen Kern reduzierte. Die perfekte Balance zwischen formaler Klarheit und emotionaler Resonanz zu erreichen war schwierig, denn er wollte, dass die Zuhörer:innen ihre Verbindung zur Musik intensivieren konnten, indem sie einfach nur den scheinbar einfachen Melodien mit akuter Aufmerksamkeit folgten.

Für Alina markierte einen Quantensprung für Pärt, eine Art kreativen Durchbruch und die Grundlage vieler weiterer Kompositionen in diesem Stil, die noch kommen sollten. Fast 20 Jahre später, im Juli 1995, orchestrierte der renommierte deutsche Musikproduzent Manfred Eicher neue Einspielungen von Für Alina und einer weiteren Schlüsselkomposition Pärts, Spiegel im Spiegel, in der Festeburgkirche in Frankfurt am Main. Der Komponist war bei den Aufnahmen anwesend und unterstützte den Produzenten und die Musiker mit wertvollen Anmerkungen und Inspiration.

Eicher hatte Pärts Musik zuerst in den frühen 1980er Jahren im Radio gehört, während einer schicksalhaften Autobahnfahrt von Stuttgart nach Zürich. Obwohl die Übertragung wegen schlechten Empfangs ständig unterbrochen wurde, hörte der Produzent genug, um nachhaltig von dem estnischen Komponisten verzaubert zu werden. Später fand er heraus, dass es Tabula Rasa war, was er gehört hatte – ein Stück für Klavier und Streicher, das 1977 uraufgeführt wurde.

Heute scheint es unvorstellbar, dass Pärt alles andere als ein gängiger Name im damaligen Westeuropa war. Seit Jahrzehnten werden seine Arbeiten nun schon quer über den Globus konstant gespielt und aufgeführt – doch das war seinerzeit noch nicht der Fall. Pärts Musik wurde immer noch hauptsächlich in Russland rezipiert, obwohl der Komponist bereits in Wien lebte, nachdem er sich 1980 aus politischen Gründen gezwungen sah, die Sowjetunion zu verlassen.

Manfred Eicher rief ECM New Series, eine Unterabteilung des berühmten Labels für Jazz und improvisierte Musik, das er 1969 mit gegründet hatte, ins Leben, um jene Pärt-Komposition zu veröffentlichen, der er so fasziniert im Radio zugehört hatte. Er hatte bereits einige Ausflüge in die zeitgenössische Klassik unternommen, vor allem mit Aufnahmen von Steve Reichs Musik, doch diese waren noch unter dem regulären ECM-Banner veröffentlicht worden. Tabula Rasa wurde das erste Album, das das ECM New Series-Logo trug – der offizielle Start für das neue Sub-Label im Jahr 1984.

Seitdem hat ECM New Series “sich unzweifelhaft einen ganz eigenen Platz im Ökosystem der klassischen Musik geschaffen”, wie sich die New York Times kürzlich begeisterte, “und seine nüchterne visuelle Ästhetik und der geräumige, kristallklare Klang sind wiedererkennbare Visitenkarten.”

Obwohl Eicher und sein Team riesige Erfolge mit der Musik von Meredith Monk, Keith Jarrett, Andras Schiff, dem Danish String Quartet oder dem Hilliard Ensemble feierten, ist Arvo Pärt doch der Schlüsselkomponist des Labels geblieben, und für Pärt bleibt ECM die ideale Labelheimat – sowohl Tabula Rasa von 1984 als auch das Album Alina von 1999, das die erwähnten Frankfurter Aufnahmen von Für Alina und Spiegel im Spiegel enthält, sind perfekte Einführungen in seine reiche Diskografie.

In den letzten 40 Jahren hat ECM einige Platten veröffentlicht, die sich sehr gut verkauft haben, doch Eicher betrachtet Musik nicht durch die Brille kommerziellen Erfolges. Er ist ein Mann der Künste, stets auf der Suche nach Wahrheit und Authentizität, und er sieht ECM, wie er der New York Times erzählte, als “ein zuvorderst kulturelles Projekt, das sich an Zuhörer richtet, die sich für Musik begeistern.” Eicher hat diese Hingabe selbst immer wieder bewiesen, indem er schwierigen bis berüchtigten Alben ein Forum geboten hat. Doch für jeden obskuren barocken Komponisten, den er auftat, veröffentlichte er auch eine Platte wie Officium, das unerwartet beliebte Album des norwegischen Saxophonisten Jan Garbarek mit dem Hilliard Ensemble, eines der meistverkauften ECM-Alben aller Zeiten.

Falls es so etwas wie einen Schlüssel zum Erfolg gibt, ist es für Eicher, langlebige musikalische Partnerschaften zu entwickeln, so wie die symbiotische Verbindung zu Arvo Pärt. Im gleichen New York Times-Artikel wird Eicher zitiert, wie er seine Philosophie der Arbeit mit Künstler:innen beschreibt: “Ich glaube, was ausschlaggebend war, war das natürliche Wachstum von Beziehungen – dieses Einbinden von Musikern und Komponisten – und die Zeit, die wir dessen Entwicklung eingeräumt haben.”

Man kann klar sagen, dass sich die Eicher/Pärt-Verbindung seit ihren ersten gemeinsamen Aufnahmen nur intensiviert hat. And I heard a voice ist bereits das 18. Pärt-Album auf ECM New Series. Es konzentriert sich auf den heiligen, transzendenten Aspekt der Musik des estnischen Komponisten. Aufgenommen in den Jahren 2021 und 2022 in der Haapsalu-Kirche in Estland und produziert von Manfred Eicher, wurde es kurz vor Pärts 90. Geburtstag am 11. September 2025 veröffentlicht. Ein besonderes Release-Konzert wird an diesem Tag in der Kirche Kärdla auf der estnischen Insel Hiiumaa stattfinden.

Nachdem er Jahrzehnte in Russland, Österreich und Deutschland lebte, ist Pärt bereits vor vielen Jahren in sein Heimatland zurückgekehrt. Man sagt, er lebe dort ein ruhiges, mönchsartiges Leben, geprägt von Zurückhaltung und Einkehr. Im Alter von 90 Jahren ist er immer noch aktiv als Komponist. Er hat einen beeindruckenden Katalog von Arbeiten aufgebaut, die längst den Test der Zeit bestanden haben und weiterhin unfassbar populär sind, auch jenseits der Kernzielgruppe des klassischen Publikums. Steve Reich mag Recht gehabt haben und die klassischen Musikliebhaber:innen unter den Postbot:innen werden niemals Schönberg pfeifen – aber vielleicht pfeifen sie bereits Für Alina.

Geschrieben von Stephan Kunze

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