Album insights
Die Partitur der Matthäuspassion, von Bach selbst geschrieben, gilt als ein außergewöhnlich elegantes kalligrafisches Kunstwerk. Sie veranschaulicht die Entwicklung seiner Handschrift, die von der geschmeidigen Linienführung seiner mittleren Jahre bis zu später kaum noch lesbaren Abschnitten reicht. Sorgfältig eingeklebte Korrekturen lassen darauf schließen, dass Bach bestrebt war, ein perfektes Autograph zu hinterlassen. Dennoch bleiben die Entstehungsphasen des Werks sowie die Frühgeschichte und Aufführungsumstände weitgehend ungeklärt, ebenso wie die Reaktionen des damaligen Publikums.
Die Matthäuspassion war ursprünglich als Abschluss von Bachs Kantatenjahrgang 1724/25 vorgesehen, doch die Uraufführung verzögerte sich und Bach unterzog das Werk noch mehreren Überarbeitungen. Im Zentrum der Umarbeitungen stand die Ausweitung der Zeit für Reflexion zwischen den Szenen – ein deutlicher Unterschied zur Johannespassion. Durch eine flexible Struktur bot Bach Raum für Ariosi und nachdenkliche Arien, wodurch das Publikum die emotionale Tiefe und Schönheit besonders intensiv erleben konnte. Die Verbindung von dramatischen und meditativen Elementen übt eine nachhaltige Faszination aus.
Die zentrale Idee, Christus als Bräutigam und Opferlamm zu präsentieren, führte zu einem dialogischen Stil, den Bach gemeinsam mit seinem Librettisten entwickelte. Der Eingangschor ist monumental gestaltet, mit individuellen Klangfarben und dem berühmten Choral „O Lamm Gottes, unschuldig“. Scharfe Kontraste, Secco-Rezitative, begleitete Abschnitte und Choräle prägen den musikalischen Verlauf. Bachs Komposition zieht die Zuhörer in das Geschehen hinein, eröffnet verschiedene Sichtweisen und lädt zur Besinnung ein.
Die Szenen entfalten sich harmonisch von der biblischen Erzählung über kommentierende Passagen bis hin zu Gebeten in Arien und Chorälen. Ein dreigliedriges Schema – biblische Handlung, Reflexion, leidenschaftliche Reaktion – durchzieht die gesamte Passion. Jede Arie und jedes Instrument erhält eine eigene Ausdruckskraft. So entsteht eine orchestrale Dramatik und ein Dialog zwischen den Stimmen, der das Werk besonders eindringlich macht.
Das Ende der Matthäuspassion ist von einer langen, bewegten Passage und einer Sarabande geprägt, die den Eindruck eines nie endenden Weiterführens vermittelt. Die eindrucksvolle Darstellung Jesu durchzieht das gesamte Werk. Die Tiefe und das Genie Bachs zeigen sich in der dramatischen Gestaltung und in der Fähigkeit, die Zuhörer gedanklich und emotional einzubeziehen und Perspektiven zu wechseln. Die Passionsgeschichte wird als menschliches Drama und moralische Herausforderung erlebbar.
Die Veränderungen in der Aufführungspraxis von Bachs Passionen balancieren zwischen dramatischer Intensität und meditativer Ruhe. Bewusst gewählte Sänger, Instrumentalisten und eine reduzierte Choreographie sorgen für eine visuelle und musikalische Dichte, die über traditionelle Bühnenbilder hinausgeht. Gardiner hebt die gewaltige, unausgesprochene Dramatik in Bachs Musik hervor, die eine tiefere Wirkung entfaltet als jede szenische Umsetzung.