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Am 22. September 1894 richtete Debussy einen Brief mit dem Titel "Cher Grand Ami" an Eugène Ysaÿe. In diesem Schreiben verwendete er das vertrauliche "du", ein Privileg, das Debussy sonst fast ausschließlich Familienangehörigen oder engen Studienfreunden aus Paris und Rom gewährte. Ysaÿe, der als Belgier die starre Pariser Höflichkeitsform ablehnte, hatte diesen vertraulichen Ton jedoch bereits eingeführt. Die Anrede war nicht nur Zeichen von Nähe, sondern spielte auch auf Ysaÿes beeindruckende Erscheinung an: Der Geiger war so groß, dass seine Violine auf der Bühne beinahe verschwand – ein Eindruck, der sein tatsächliches Spiel allerdings fehlleitend widerspiegelte.
Die wenigen überlieferten Aufnahmen Ysaÿes offenbaren einen klaren, ansprechenden Klang, geprägt von Zurückhaltung und einem feinen Gespür für Portamento. Sein Spiel verband Charme und Eleganz mit einer natürlichen Leichtigkeit, die damals als bahnbrechend für das Violinspiel galt. Anders als Zeitgenossen wie Sarasate brachte Ysaÿe eine gewisse Ernsthaftigkeit in sein Spiel, die von Kritikern wie Jacques Thibaud hervorgehoben wurde. Diese Merkmale spiegeln sich auch in den sechs Sonaten wider, die Ysaÿe 1923 für Violine komponierte.
Geboren 1858 in Lüttich, erhielt Ysaÿe seine musikalische Ausbildung zunächst am Konservatorium seiner Heimatstadt und später bei Vieuxtemps und Wieniawski in Brüssel. Von 1886 bis 1897 unterrichtete er als Violinprofessor am Brüsseler Konservatorium und startete anschließend eine erfolgreiche internationale Laufbahn. Obwohl er ab 1884 eigene Werke schrieb, blieb ein Großteil seiner Musik für Streichinstrumente lange unveröffentlicht und wenig bekannt. Die sechs Sonaten verdeutlichen Ysaÿes Ablehnung konventioneller Formen, indem sie in jedem Satz durch ungewöhnliche und faszinierende technische sowie emotionale Elemente überraschen.
Der Anstoß zur Komposition seiner Violinsonaten kam durch Joseph Szigetis eindrucksvolle Darbietung von Bachs Solo-Sonate in g-Moll. Szigeti und Ysaÿe fragten sich, warum seit Bach keine vergleichbaren Werke entstanden waren, obwohl sich Musik und Violintechnik seit 1720 erheblich weiterentwickelt hatten. Im Juli 1923 entwarf Ysaÿe innerhalb eines Tages Skizzen zu allen sechs Sonaten, die bereits im folgenden Jahr erschienen.
Die Widmung der ersten Sonate in g-Moll an Joseph Szigeti unterstreicht dessen Bedeutung als Inspirationsquelle; zudem entspricht die Tonart derjenigen von Bachs Vorbild. Als die Sonaten 1924 veröffentlicht wurden, stand Szigeti kurz vor dem Ende seiner Professur in Genf und führte Prokofjews erstes Violinkonzert auf. Trotz seiner Vorbehalte gegen Virtuosentum und seines konservativen Stils bewies Szigeti mit dieser Sonate eindrucksvoll seine technische und musikalische Klasse.
Der Kopfsatz der g-Moll-Sonate bildet das Fundament des Zyklus: Doppel- und Mehrfachgriffe, Passagen im Stile Bachs, Übungsabschnitte sowie fantasievolle Übergänge prägen das Bild. Das Finale ist durch eine markante Gigue gekennzeichnet, die musikalische Kontraste betont und das Anfangsmotiv wieder aufgreift.
Die A-Moll-Sonate widmete Ysaÿe Jacques Thibaud, einem Absolventen des Pariser Konservatoriums, der für seinen feinen Ton berühmt war und Ysaÿe über Jahre freundschaftlich verbunden blieb. Der mit "Obsession" überschriebene erste Satz bezieht sich auf Thibauds Gewohnheit, regelmäßig Bachs Preludio zu spielen. Weitere Teile der Sonate greifen Motive aus Bach und das gregorianische "Dies irae" in verschiedenen Variationen auf.
Die dritte Sonate in d-Moll, untertitelt "Ballade", ist George Enescu gewidmet, der sich gleichermaßen für Bach wie für moderne Komponisten engagierte. Ysaÿes einsätzige Komposition verbindet klassische mit unkonventionellen Elementen und spiegelt Enescus Vielseitigkeit wider.
Die sechste Sonate in E-Dur widmete Ysaÿe Manuel Quiroga, der für seine makellose Technik und den reinen Ton bekannt war. Spanische Rhythmen wie Tango und Habanera werden hier mit technischer Brillanz und lyrischem Ausdruck kombiniert.
Die vierte und fünfte Sonate sind weiteren Geigern gewidmet und zeichnen sich jeweils durch individuelle Nuancen aus. Während Crickboom, bekannt für seine Lehrtätigkeit, die rustikale G-Dur-Sonate inspirierte, prägte Quiroga die E-Dur-Sonate durch ihren lyrischen und spanisch geprägten Charakter.