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Koproduzent:in, Komponist:in, Gitarre

Bryce Dessner

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Bryce Dessner – dessen Musik laut National Public Radio „wunderschön und gefühlvoll“ ist – verbindet in seinen Konzertwerken nahtlos klassische und populäre Elemente. Seine Kompositionen sind gleichermaßen von Vergangenheit und Gegenwart geprägt und lassen die Möglichkeiten der Zukunft erahnen. Dessners Partituren, von der New York Times als „gewandt“ und „lebendig“ beschrieben, schöpfen aus Elementen des Barock und der Volksmusik, der Spätromantik und der Moderne, des Minimalismus und des Blues. Sie sind inspiriert von Ikonen wie Béla Bartók, Benjamin Britten und Henryk Górecki bis hin zu Morton Feldman, Terry Riley, Philip Glass und Steve Reich. Auch so unterschiedliche amerikanische Querdenker wie John Fahey, La Monte Young und Glenn Branca finden Eingang in die Klangwelt des jungen Komponisten. All diese Einflüsse – nicht zuletzt seine weltweiten Erfahrungen als vielseitiger und genreübergreifender Musiker – prägen Dessners organischen und individuellen Stil als Komponist. Das bisher beeindruckendste Dokument von Dessners Kunst ist das Deutsche-Grammophon-Album „St. Carolyn by the Sea“, das seine ersten Aufnahmen für das legendäre Yellow Label enthält. Das Album, das am 3. März 2014 erschien, umfasst drei brillante Kompositionen Dessners – das Titelstück, „Lachrimae“ und „Raphael“ –, die von den Kopenhagener Philharmonikern unter der Leitung von André de Ridder interpretiert werden. Auf den Aufnahmen sind außerdem Gitarrenparts von Dessner und seinem Zwillingsbruder Aaron zu hören. Der 1976 in Ohio geborene und heute in New York lebende Dessner erlangte zunächst als Gründungsmitglied und Gitarrist (zusammen mit Aaron) der Grammy-nominierten Rockband The National größere Bekanntheit. Wie WQXR New York jedoch bemerkte: „‚… Of The National‘ ist eine Formulierung, die oft mit Bryce Dessners Namen verbunden wird. Kein schlechter Zusatz, aber… manche Hörer könnten diesen Titel als unzureichend für sein Talent empfinden, falls sie das nicht schon getan haben.“ Die Bühne für Dessners Debüt bei DG war durch die begeisterte Resonanz auf „Aheym“ bereitet, ein 2013 erschienenes Album des stets innovativen Kronos Quartetts, das seinen Kompositionen gewidmet war. Im interkulturellen Kunstmagazin „Bomb“ schrieb der Avantgarde-Komponist und Gitarrist Elliot Sharp über Dessners Kompositionsweise im Titelstück: „Ein dramatischer, düsterer und eindringlicher Auftakt, dann ein Hauch, dann ein aufkeimender melodischer Keim… Der Keim wächst schließlich… zu einem mitreißenden Höhepunkt.“ Die britische Zeitung „The Independent“ hob das Titelstück hervor und beschrieb es als „ein elegantes Geflecht verschlungener Linien, das die Musik in Wellen vorantreibt.“ Das Musikportal Q2 von WQXR kürte „Aheym“ zum Album der Woche und lobte die Musik als „atemberaubend, nostalgisch und wunderschön hypnotisch“. Pitchfork bezeichnete Dessners Kompositionen als „kraftvolle, lebendige Musik“. St. Carolyn by the Sea präsentiert Dessners Werke neben einer Suite von Jonny Greenwood von Radiohead, einem von Dessners Kollegen als Rockgitarrist und genreübergreifender Komponist. Trotz seiner Erfolge im Rockbereich ist Dessner klassisch ausgebildeter Musiker. Er schloss sein Musikstudium an der Yale University mit einem Master ab, wo er klassische Gitarre, Flöte und Komposition studierte. In New York City angekommen, spielte er mit Ensembles für zeitgenössische Musik wie den Bang on a Can All-Stars und war Mitbegründer der Improvisationsgruppe Clogs, die von zeitgenössischen Interpretationen Alter Musik beeinflusst war. Er arbeitete mit Komponisten wie den Pulitzerpreisträgern Steve Reich und David Lang sowie mit Philip Glass, Michael Gordon und Nico Muhly zusammen. 2006 gründete Dessner das MusicNOW Festival, ein von ihm jährlich in seiner Heimatstadt Cincinnati kuratiertes und vielbeachtetes Festival für zeitgenössische Musik. Derzeit ist er Composer-in-Residence am Muziekgebouw Frits Philips in Eindhoven, Niederlande. In einem Video über die Entstehung des Albums „St. Carolyn by the Sea“ erklärt Dessner: „Es ist nicht so, dass man als Rockmusiker zur Klassik kommt und dann wieder zum Rock zurückkehrt. Man bleibt derselbe Musiker, egal wo man hingeht.“ Er fügt jedoch hinzu: „Was mich an der Konzertmusik fasziniert, ist unter anderem die Wertschätzung für Wagemut. Es wird viel über die Alterung des Publikums klassischer Musik gesprochen, aber dem stimme ich nicht zu. Der Grund, warum sich jemand wie ich, der problemlos mit meiner Rockband auf Tournee gehen könnte, zu dieser Kultur hingezogen fühlt, ist die große Lust und Energie, experimentelle Musik aufzuführen.“ In einem kürzlich erschienenen Artikel über Dessner als Komponist im Magazin „Listen“ erinnerte sich David Harrington, Leiter des Kronos Quartetts: „Als wir Bryces Musik zusammen mit Steve Reichs „Different Trains“ und dem Tripelkonzert auf einem Reich-Festival aufführten, sagte Steve zu mir: ‚Ich kann es nicht fassen, dass ein Mensch so ein guter Komponist, ein großartiger Gitarrist, ein wunderbarer Kurator – und dazu noch ein netter Kerl! – sein kann.‘ Aber es stimmt. Sein Festival in Ohio ist fantastisch – es symbolisiert all die verschiedenen Gemeinschaften, die er in der Musik zusammenbringt.“ Der Komponist Nico Muhly teilte seine Theorie darüber, was Dessner in der klassischen Welt auszeichnet: „In der Klassik kann Virtuosität manchmal Selbstzweck sein. Bryce verfügt über ein wunderbares technisches Können, aber für ihn steht immer die Musikalität im Vordergrund.“ Dessner erklärt die verschiedenen Vorzüge von Rock und Klassik: „Beim Schreiben eines Rocksongs ist Ökonomie entscheidend – der emotionale Kern eines Liedes sollte sofort erfahrbar sein. Es ist eine hervorragende Übung, die Tugenden klarer, überzeugender Ideen zu erlernen. Längere Kompositionen bieten einen persönlicheren Raum, ähnlich wie Poesie – weniger unmittelbar, aber vielleicht tiefgründiger. Was ich an der aktuellen Entwicklung großartig finde, ist die größere Durchlässigkeit der Kultur. Künstler arbeiten freier zusammen und sind in verschiedenen Bereichen tätig. Dass sich ein so traditionsreiches Label wie Deutsche Grammophon neuen Komponisten wie mir öffnet, ist ein grundlegender Wandel, und ich denke, das ist in der gesamten Kultur spürbar.“ Die Musik auf dem Album „St. Carolyn by the Sea“ verbindet auf kunstvolle Weise Unmittelbarkeit und Resonanz, Klangfarbe und Emotion. Rhythmisch energiegeladen und melodisch mal ergreifend, besticht das wunderschöne Titelstück des Albums – inspiriert von einer halluzinatorischen Episode in Jack Kerouacs Roman „Big Sur“ – durch die glockenhellen Gitarrenklänge beider Dessner-Brüder, die sich harmonisch in den Orchesterklang einfügen. „Als ich für Gitarre in ‚St. Carolyn by the Sea‘ komponierte, wollte ich etwas schaffen, bei dem die Gitarre stellenweise mit subtilen Sololinien hervortritt, sich aber in die Gesamtstruktur einfügt, anstatt sie zu dominieren“, erklärt der Komponist. „Ich habe kein Interesse daran, Rockklischees zu übernehmen.“ Auch in „Raphael“, das Dessner beim Experimentieren mit einem alten Harmonium komponierte, prägt sein glockenartiger Gitarrenklang die Musik. „Es entwickelt sich aus einem warmen Bordunklang, der Ähnlichkeiten mit einigen frühen minimalistischen Stücken aufweist.“ Das Herzstück des Albums, „Lachrimae“, verweist sowohl auf die gleichnamige Melodie von John Dowland, die Dessner schon lange auf der Gitarre spielt, als auch auf Brittens Orchesterwerk, das auf Dowlands Werk basiert. Die Streicherarrangements in Dessners Werk wurden von einem seiner Lieblingskomponisten inspiriert: „Bartók ist mein Lieblingskomponist, und sein Divertimento ist für mich der Höhepunkt der Streichermusik.“ Anlässlich der Veröffentlichung von Dessners Debütalbum bei der Deutschen Grammophon werden im März 2013 Stücke aus „St. Carolyn by the Sea“ vom Wordless Music Orchestra unter der Leitung von André de Ridder im New Yorker Le Poisson Rouge sowie vom Cincinnati Symphony Orchestra mit Dessner im Rahmen des MusicNOW Festivals aufgeführt. Zu Dessners neuen Kompositionen zählt „Murder Ballades“, ein von amerikanischer Volksmusik inspiriertes Werk für das mehrfach mit dem Grammy ausgezeichnete Ensemble eighth blackbird. Die Uraufführung fand 2013 in Eindhoven statt, die Aufnahme erschien 2015. So Percussion brachte Dessners „Music for Wood and Strings“ 2013 in der Carnegie Hall zur Uraufführung und nahm das Werk ebenfalls für eine spätere Veröffentlichung auf. Das Kronos Quartet hat bei Dessner ein Quintett in Auftrag gegeben, das gemeinsam mit dem Ensemble an der Gitarre auftreten und im Mai 2014 im Londoner Barbican uraufgeführt werden sollte. Der Brooklyn Youth Chorus gab Dessners „Black Mountain Songs“ in Auftrag, die im November 2014 an der Brooklyn Academy of Music uraufgeführt werden sollten, und die Los Angeles Philharmonic hat ein Werk von Dessner in Auftrag gegeben, das 2015 uraufgeführt werden sollte. Zu Dessners wichtigsten früheren Kompositionen zählen die Streichquartette für Kronos („Aheym“, „Tenebre“ und „Little Blue Something“), „Tour Eiffel“ für den Brooklyn Youth Chorus, „O Shut Your Eyes Against the Wind“ für Bang on a Can, „The Long Count“ für Orchester und vier Sänger, das er zusammen mit Aaron Dessner für das Next Wave Festival der BAM komponierte, sowie „The Lincoln Shuffle“, ein Zyklus von Stücken für Blechbläserensemble und E-Gitarre, der anlässlich des 200. Geburtstags von Abraham Lincoln in der Rosenbach Library in Philadelphia uraufgeführt wurde. und „Propolis“ für Bassklarinette und Elektronik, gemeinsam mit David Sheppard und Evan Ziporyn komponiert, für einen Klangpavillon von Matthew Ritchie. „Jedes Mal, wenn ich für einen neuen Interpreten oder eine neue Instrumentenkombination komponiere, bin ich inspiriert und voller Tatendrang“, sagt Dessner. „Es ist wunderbar, einen Beruf zu haben, in dem man ständig dazulernt und seine Grenzen erweitert. Ich entwickle immer wieder neue Ideen.“ 2/2014