Seit mehr als einem Jahrhundert hält sich die Erzählung vom Fluch der Neunten: die Neunte als Gipfelpunkt der Gattung, nach dem nichts mehr kommt. Der Mythos der Neunten Symphonie speist sich aus Biografien großer Komponist:innen, aus Zufällen der Chronologie – und aus der besonderen Symbolkraft von Beethovens 9. Symphonie.
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Unter dem Fluch der neunten Symphonie versteht man die Annahme, dass Komponist:innen nach ihrer neunten Symphonie sterben oder keine zehnte vollenden. Das wirkt aufgrund von berühmten Biografien wie denen von Beethoven, Mahler, Bruckner und Schubert schlüssig. Bei genauerem Hinsehen zeigen jedoch uneinheitliche Zählweisen (unnummerierte Werke, Fragmente, Revisionen) und selektive Erinnerung, wie brüchig die vermeintliche Regel ist. Der Aberglaube um die 9. Symphonie lebt vor allem von auffälligen Einzelfällen.
Die folgenden Biografien werden am häufigsten als Belege angeführt – jede auf ihre Weise ein Sonderfall.
Beethovens 9. Symphonie markiert einen ästhetischen und formalen Höhepunkt seines sinfonischen Schaffens. In den Jahren danach wandte er sich vor allem den späten Streichquartetten zu, während die gesundheitlichen Belastungen zunahmen. Skizzen belegen Überlegungen zu einer Zehnten, das Material bleibt jedoch fragmentarisch. Eine autorisierte Partitur entstand nicht – die Idee einer „Zehnten“ blieb Entwurf und wurde erst viel später in Studien- und Rekonstruktionsversuchen umrissen.
Mahler umging die Zählung zunächst und nummerierte „Das Lied von der Erde“ bewusst nicht. Danach entstand Mahlers 9. Symphonie, die häufig als spätes Abschiedswerk gelesen wird. An der Zehnten arbeitete er intensiv: Das eröffnende Adagio ist weitgehend ausgearbeitet, weitere Sätze liegen in unterschiedlichen Stadien vor. Spätere editorische Fassungen ermöglichen zwar vollständige Aufführungen, doch eine endgültige, vom Komponisten autorisierte Version existiert nicht.
Bruckners 9. Symphonie blieb im Finale unvollendet: Drei monumentale Sätze sind vollständig überliefert, der vierte liegt nur fragmentarisch vor. Bruckners langsamer, revisionsreicher Arbeitsprozess und sein hohes Alter ließen eine eigenständige Zehnte nicht mehr entstehen.
Schuberts 9. Symphonie – „Die Große“ in C-Dur D 944 – wurde erst posthum als Meisterwerk erkannt. Skizzen zu einer Zehnten existieren, sein früher Tod mit nur 31 Jahren verhinderte jedoch die Vollendung. Im 19. Jahrhundert ordneten Verlage und Herausgeber Schuberts Symphonien unterschiedlich ein – manche zählten nur vollendete Werke, andere berücksichtigten auch Fragmente. Daher erscheint die „Unvollendete“ (h-Moll, D 759) teils als Nr. 7, heute meist als Nr. 8 – und die „Große“ je nach Edition als Nr. 7, 8 oder 9.
So eindrucksvoll die Fälle wirken: Einer nüchternen Prüfung hält der Aberglaube um die 9. Symphonie kaum stand. Die Statistik ist verzerrt – prominente Beispiele bleiben präsent, Gegenbeispiele werden übersehen. Unterschiedliche Zählungen, geprägt durch Skizzen, Revisionen und unnummerierte Werke, verstärken den Eindruck ebenso wie sehr verschiedene Lebensläufe und eine Gattung im Wandel des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Plausibler als ein Fluch ist die kulturelle Gravitation: Seit Beethoven gilt die Neunte als Chiffre der Vollendung. Wer dorthin schreibt, stößt unweigerlich auf die Grenzbereiche von Maßstab, Erwartung und Endlichkeit. Was bleibt, ist die Erzählkunst der Nachwelt, die aus biografischen Zufällen eine packende Geschichte formt.
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