„Was tut man, wenn man scheinbar alles getan und erreicht hat? Wenn man zu den weltweit meistverkauften zeitgenössischen klassischen Musikern gehört, mit lebenslangen Plattenverkäufen von 80 Millionen und einem unvergleichlichen Ruf als Live-Performer?
Was bleibt noch zu erreichen, wenn man von Päpsten, Präsidenten und königlichen Hoheiten geehrt wurde und in vielen der größten internationalen Konzertsäle und Opernhäuser (und Fußballstadien) aufgetreten ist?
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Was ist das nächste Ziel, nachdem man mit einer Vielzahl junger, talentierter Sängerinnen Duette gesungen hat, einem der größten Popstars der Welt geholfen hat, ein völlig neues Publikum zu erreichen, und zusammen mit einem Landsmann und Freund eines der bemerkenswertesten modernen Fußballmärchen gefeiert hat?
Also, wenn man mit Ariana Grande, Nicole Scherzinger, Jennifer Lopez, LeAnn Rimes und Katherine Jenkins gesungen hat… wenn man die Menschenmassen im Central Park in New York City mit einem hochkarätigen Konzert begeistert hat, zu dessen Gästen Céline Dion, Tony Bennett, Chris Botti und David Foster gehörten… wenn man „Nessun Dorma“ und sein Markenzeichen „Con Te Partirò“ (Time To Say Goodbye) für Claudio Ranieris Premier-League-Sieger Leicester City und deren jubelnde Fans im King Power Stadium im Mai 2016 gesungen hat… und mit Ed Sheeran an dem Hit „Perfect Symphony“ von 2017 gearbeitet hat… wohin führt der Weg dann, und was folgt als Nächstes?
Wenn man Andrea Bocelli ist, geht man nach 15 Alben, die das klassische und das Pop-Repertoire abdecken, zurück zu den eigenen Wurzeln – sowohl zu sich selbst als auch zu der Musik, die einen geprägt hat. Man nimmt sich die Zeit und Mühe – und vielleicht das Risiko –, eine Reihe neuer Songs zu finden. Man sucht nach Originalkompositionen, die würdig sind, sich neben die zeitlosen Klassiker zu stellen, mit denen man sich als Meister der Interpretation einen Weltruf aufgebaut hat.
„Ich wollte zu meinen Erinnerungen zurückkehren, zu der Zeit, als ich ein junger Mann war und in einer Pianobar spielte. Natürlich habe ich seitdem viele Alben produziert, viele Cover gesungen, viele andere Dinge getan. Aber an einem gewissen Punkt sagte ich mir: ‚Vielleicht ist es an der Zeit… Vielleicht ist jetzt der Moment gekommen, all meine Mühe darauf zu verwenden, neue Lieder zu finden.‘ So, als würde man in meiner Karriere von Neuem beginnen.
Aber“, bemerkt der 59-jährige italienische Superstar mit einem Lächeln, „schöne Musik braucht Zeit.“
Darf ich also vorstellen: Sì – Bocellis erstes Album mit neuem Material seit 14 Jahren. Eine Sammlung kraftvoller, emotionaler Songs, einige mit Interpolationen klassischer Themen (etwa von Bach und Massenet), und alle durchdrungen von einer positiven Botschaft über die Kraft von Liebe, Familie und Musik. Die Lieder sind sowohl auf Italienisch als auch auf Englisch, einige stammen von langjährigen Komponisten und Autoren, und eines ist eine emotionale Hommage an seine Ehefrau Veronica.
Zur Erklärung der langen Zeitspanne sagt Bocelli: „Ich fand schon immer, dass es extrem schwierig ist, Lieder zu finden, die es wert sind, für die Öffentlichkeit gesungen zu werden – und dann zu hoffen, dass das Publikum bereit ist, die notwendige Zeit aufzubringen, um diese Lieder zu verstehen. Also ja, es hat Zeit gebraucht.
Zweitens war ich in all den Jahren mit vielen anderen Dingen beschäftigt“, fügt er mit nicht geringer Untertreibung hinzu. „Ich habe gesungen und meine Interpretation großer Lieder der Vergangenheit gegeben.“
Mit der ihm eigenen Sorgfalt und Überlegung nahm Bocelli diese neue kreative Herausforderung an. Sein Fokus: eine Sammlung von Liedern zu finden, die seinen emotionalen und intellektuellen Interessen entsprechen, in sein unvergleichliches Repertoire passen und seinem weltweiten Publikum auch musikalisch etwas Neues bieten.
„Jeden Tag bekomme ich zu Hause Lieder aus aller Welt zugeschickt. Die Leute schicken mir Songs, damit ich sie höre und bewerte… Und wir hören uns tatsächlich alle an“, bemerkt der Mann, für den Musik eine lebenslange Leidenschaft ist. „Doch es ist nicht immer einfach, inmitten so vieler Einsendungen wertvolle Juwelen zu entdecken. Es ist kaum zu glauben, aber vieles kommt in furchtbarem Zustand an – manche schicken mir ein Lied, das sie einfach mit ihrem Handy aufgenommen haben!“ lacht er.
„Es kann wirklich schwierig sein, den Wert eines Liedes zu erkennen – manchmal ist es ein Glücksfall, in solchen, äh, wenig vielversprechenden Umständen einen guten Song zu finden!“
In seinem Studio in seinem Haus an der toskanischen Küste sichtete er eine Fülle von Material. Neben den unaufgeforderten Einsendungen kamen auch Kompositionen von Autoren, mit denen Bocelli schon früher gearbeitet hat.
„Wir haben Autoren, die immer für mich schreiben, enge Mitarbeiter. Gemeinsam mit ihnen und mit dem Blick über diesen Kreis hinaus haben wir nach und nach eine Sammlung von Titeln zusammengestellt. Es ist mir wirklich wichtig, dem Publikum – und damit einem breiten Publikum – Lieder zu geben, die es verdienen, gesungen zu werden. Qualität zählt, nicht Quantität.
„Ein Album ist wie ein menschlicher Körper“, führt er aus, „es muss in sich stimmig sein, ein Körper von Werken, bei dem alle Organe zum Gesamtergebnis beitragen.“
Für diesen vollendeten Künstler, der stets leidenschaftlich darum bemüht ist, sowohl der Musik als auch seinen Fans gerecht zu werden, reichte es nicht aus, sich darauf zu verlassen, dass er eine der größten Stimmen aller Zeiten besitzt. Das Material musste ebenso magisch sein wie die Stimme.
Er nickt. „Das habe ich mit diesem Album versucht: etwas zu schaffen, das als einzigartig erkennbar ist, aber einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Etwas, das alle Schlüsselelemente besitzt, um es von allem anderen auf dem Markt abzuheben.“
„Ali di libertà“ ist ein entsprechend erhebender Auftakt zu Sì.
„Das ist ein Lied, das ich sehr mag. Es ist sozusagen das liedhafteste Stück des ganzen Albums. Es ist ein sehr frisches, sehr zeitgemäßes Lied. Die Melodie ist einfach – aber gleichzeitig sehr authentisch, sehr ehrlich. Es ist kein konstruiertes Lied. Also keines von denen, die am Reißbrett entworfen werden, um oberflächlich gefällig zu wirken. Dieses Lied hat Tiefe und Bedeutung.“
Gleichzeitig „authentisch“ ist „Miele Impuro“, geschrieben vom großartigen Francesco Sartori.
„Francesco ist ein wirklicher Autor – ein auteur, könnte man sagen. Er hat ‚Con Te Partirò‘ und andere fantastische Lieder mitgeschrieben, die in meiner Karriere sehr wichtig waren. Die Texte stammen von einem italienischen Dichter; ich glaube, ein gutes Gedicht muss ein Geheimnis enthalten. Wenn hinter einem Gedicht kein Geheimnis steckt, ist es wertlos. Und dieser Text hat ein Geheimnis, darum ist er so kraftvoll.“
„Schon wenn man nur den Titel kennt“, fährt er fort, „spürt man, dass dahinter ein Geheimnis steckt, denn miele impuro bedeutet ‚verunreinigter Honig‘. Es wäre schwierig, Honig als verunreinigt zu bezeichnen – also fragt man sich, was damit nicht stimmt…“
Sartori ist auch der Co-Autor von „Qualcosa più dell’Oro“. Dieses Lied ist für Bocelli besonders bedeutungsvoll, weil der andere Autor Lucio Quarantotto ist, der Co-Autor von „Con Te Partirò“, der 2012 starb.
„Der dramatische Tod von Lucio…“, beginnt Bocelli, sichtlich noch immer erschüttert vom Verlust seines Freundes und Kollegen. „Die Schwierigkeiten und Konflikte in seinem Leben erlaubten es ihm, Lieder mit sehr kraftvollen Geheimnissen zu schreiben – man denke nur an den Text von ‚Time to Say Goodbye‘. Dieses Lied hat für mich deshalb eine ganz besondere Bedeutung.“
Aber statt eines Tributs für Quarantotto, sagt Bocelli, sei das Gegenteil der Fall: „Ich sehe es als Tribut von ihm an mich. Mehr noch als ein Tribut – es war ein Geschenk an mich, ein Geschenk, bevor er uns verließ… Und wenn es ein Erfolg wird, wird es mein Tribut an ihn sein.“
Weitere persönliche Verbindungen finden sich in „Vivo“, das über Bocellis Ehefrau geschrieben wurde.
„Dieses Lied hat mich wirklich bewegt, als ich es zum ersten Mal hörte. Eines Tages kam der Autor Riccardo Del Turco einfach vorbei und gab mir dieses Lied – völlig überraschend! Und es berührte mich tief. Ich verstand sofort, dass es meine Geschichte ist, die Geschichte mit der Person, mit der ich lebe, mit der ich seit vielen Jahren lebe – aber es ist eine Geschichte, mit großer Zartheit, Leidenschaft und Freundschaft erzählt. Offensichtlich kennt der Autor dieses Liedes mich, kennt uns, kennt unsere gesamte Geschichte sehr genau. Riccardo hat seine Seele in dieses Lied gelegt, und das Ergebnis ist ein Lied, das ehrlich, authentisch und voller Liebe ist.“
Dasselbe lässt sich über das ganze Album Sì sagen. Alle Gesänge wurden zu Hause aufgenommen („Wenn man ein Lied im Popkontext aufnimmt, ist es extrem wichtig, den Komfort des eigenen Zuhauses zu haben“), und produziert wurde es vom legendären Bob Ezrin (Pink Floyd, Lou Reed). Dieses Album handelt von Herz und Seele, von Positivität und Familie, von Melodie und Magie.
Was tut man, nachdem man die unzähligen Erfolge von Andrea Bocelli erreicht hat? Man geht nach Hause, man geht in die Tiefe, und man geht dorthin, wo die eigene Liebe ist. Man sagt Ja zum Leben. Man macht Sì.
Und zu diesem einfachen, kraftvollen Titel sagt Bocelli: „Zunächst einmal: Es steckte viel Arbeit darin, den richtigen Titel zu finden!“ lacht er. „Alle hatten Vorschläge, aber am Ende hatte mein Sohn Amos die Idee. Und sofort war es der perfekte Titel. In dieser historischen Phase, die wir gerade durchleben, sagen wir viel zu oft Nein. Aber Ja ist das Wort, das man sagt, wenn man seinen ersten Kuss bekommt, wenn man jemandem zustimmt, wenn man jemandem etwas Gutes tun möchte. Sì ist das Wort, das man sagt, wenn alles gut ausgehen wird. Aus tausendundeinem Grund ist sì der Ausdruck eines positiven, kraftvollen, menschlichen Wortes, eines Gefühls, einer Emotion.
„Und für dieses Album, mit diesen Liedern und diesen Emotionen, ist Sì der perfekte Titel. Sì?“ schließt Andrea Bocelli mit einem Lächeln.
